Dr. Patrick Graichen zu Gast bei Pro Nordhessen e.V.
Was tun, wenn global die Eisflächen schmelzen und die Wassertemperaturen der Meere stei-gen, wenn Extremwetterlagen uns mit Wucht treffen? Die Kohlenstoffdioxid-Emissionen (CO2) radikal und schnell auf Null senken. Also brachte die Regierung ein „Gebäudeenergiegesetz“ auf den Weg, das einen schrittweisen Ausstieg aus Heizungssystemen vorschreibt, die mit fossilen Brennstoffen arbeiten. Das sorgte im Frühjahr für große Aufregung und Verunsicherungen in der Wirtschaft, bei Hausbesitzern oder Mietern. Der Förderverein Pro Nordhessen e.V. hatte zu diesem aktuellen und brisanten Thema seine Mitglieder sowie weitere Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft eingeladen.
Rund 130 Gäste kamen zum großen Herbstevent am 14. November ins Foyer des regionalen Energieversorgers EAM und erlebten einen hochspannenden Austausch. Dr. Patrick Graichen, Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz a. D., hatte maßgeblich an dem Gesetzesentwurf mitgearbeitet und beschrieb in seinem Impulsvortrag „Zeitenwende beim Heizen und Wohnen“ die Ausgangslage, die Maßnahmen und den Zeitdruck, räumte aber auch Fehler in der Kommunikation ein. Er verwies darauf, dass allein der Gebäudesektor mit einer jährlichen CO2-Emission von 112 Mio. Tonnen die Klimavorgaben deutlich reißt. Hier bestand dringender Handlungsbedarf. Hoffnungsvoll stimmte der Umstand, dass man es nach Aus-bruch des Ukraine-Kriegs binnen neun Monaten geschafft hatte, sich unabhängig von russi-schem Gas zu machen, und Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern die Machbarkeit von Emissionssenkungen belegten. Allerdings wurde der Gesetzesentwurf zu früh in die Öffent-lichkeit getragen, angeheizt mit vielen Falschmeldungen. Es bestand nie Zwang, alte Heizungen herauszureißen. Die Erfahrungen des Frühjahrs mündeten bei ihm allerdings nun in den Fragen: „Welche ordnungsrechtlichen Maßnahmen trauen wir uns künftig? Wer traut sich Lösungen?“ Dr. Graichen hat für sich zumindest bei der Wärmeplanung die Lösung gefunden, denn die Mi-schung macht’s. Er plädierte für Wärmepumpe oder Fernwärme und in ländlichen Räumen ganz pragmatisch für individuelle Kombinationen aus Wärmepumpe und Nahwärme.
Hatte Dr. Graichen nach seinen Erlebnissen mit dem GEG (Gebäudeenergiegesetz) noch als Fazit gezogen, wie politische Diskussion nicht funktioniert, klappte dies an dem Abend auf dem Podium ausgezeichnet. Moderiert durch Amira El Ahl entwickelte sich eine Debatte, die mit großem Sachverstand, aber durchaus leidenschaftlich geführt wurde und jedem Gast Raum für seine Standpunkte gab. Dr. Hans-Friedrich Breithaupt, Sprecher der Unternehmensallianz Kli-maschutz und Nachhaltigkeit, mahnte zu mehr Tempo und gemeinsamen Schritten und verwies auf die gebündelte Kompetenz der Unternehmen. Die Regierung hätte z.B. Zeitpläne ohne die Schnittstelle Handwerk gemacht, auch bliebe die Zeitenwende eine Standortfrage, die Abwan-derung von Unternehmen riskiere. Matthias Krieger, Geschäftsführender Gesellschafter der Krieger + Schramm GmbH & Co. KG, gab mit dem Energiespeicherplushaus ein Beispiel dafür, dass die Zeitenwende bereits vor zehn Jahren eingeläutet wurde und was die Wirtschaft leisten kann. Er hielt ein Gesetz für unnötig. Nötig wären Vernunft, Zeit und gute Berater, keine Bevor-mundung. Für Architektin Barbara Ettinger-Brinckmann ist der Bausektor ein großer Klimasünder und plädierte für eine Städtebauwende. Sie priorisierte das Bauen im Bestand, also auf Lücken und Brachen, die bereits erschlossen sind, oder durch Aufstockung. Sie wünschte sich auch mehr Baumischgebiete ohne Funktionstrennung von Wohnen und Arbeiten, um Wege zu verkür-zen. Christian Wedler ist als Geschäftsführer der GWH Bauprojekte GmbH für 50.000 Wohnun-gen verantwortlich, von denen 30.000 derzeit mit Gas beheizt werden. Für ihn würde die Umstel-lung von Gasetagenheizungen auf Fernwärme oder Wärmepumpen große Probleme darstellen und zu Härtefällen durch höhere Mieten führen. Diese Steigerungen würden nämlich Einsparun-gen bei Betriebskosten nicht auffangen können.
Zu Beginn begrüßte Olaf Kieser, der als Vorsitzender der Geschäftsführung der EAM GmbH & Co. KG Hausherr war, und unterstrich für sein Unternehmen die Abkehr von fossilen Brennstof-fen. Er mahnte zudem beim Publikumsdialog eine Änderung der von Öl und Gas abhängigen Strompreisbildung an, denn diese behindere die Energiewende. Gastgeber Dr. Jürgen Spalck-haver, Vorstandsvorsitzender von Pro Nordhessen e.V., betonte in seinem Grußwort die große gesellschaftliche Relevanz des Themas und zeigte auf, dass derzeit rund 700.000 Wohnungen fehlten. Den sozialen Frieden thematisierte auch Kai Georg Bachmann, Geschäftsführer der Regionalmanagement Nordhessen GmbH, der ganz im Sinne der zahlreich anwesenden kom-munalen Vertreter zur Zukunftssicherung um eine breite Allianz bat. Bevor es ausklingend zu Netzwerken und Imbiss ging, fasste Pro Nordhessen-Geschäftsführer Markus Exner seine Ein-drücke vom Abend zusammen: „Ich freue mich, dass wir alle an einem gemeinsamen Ziel fest-halten, jeder auf seine Weise. Wir haben konstruktiv den Dialog gesucht und sogar Lösungsan-sätze gefunden. Die Richtung stimmt.“